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Corona und das Grundgesetz

Die Corona-Pandemie stellt Deutschland vor eine noch nie dagewesene Situation. Seit Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 mussten sich die Grundrechte noch keiner vergleichbaren Einschränkung unterziehen. Derzeit gibt es kaum ein Grundrecht, das durch die zahlreichen und unterschiedlichen Corona-Verordnungen der Bundesländer keine Beschränkung bis hin zu einer völligen Außerkraftsetzung erfahren muss. Über die Frage, wer über Intensität und Dauer der Grundrechtseingriffe entscheiden darf, sprach TOP THÜRINGEN mit dem Erfurter Rechtsexperten und Wirtschaftsmediator Prof. Dr. Rolf Bietmann.

Herr Prof. Dr. Bietmann, wie ist die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich aufgebaut und welche Besonderheiten gelten in der aktuellen Corona-Pandemie?

Die Staatsgewalt wird in Deutschland durch Legislative, Exekutive und Judi­kative ausgeübt. Dieses „Prinzip der Gewaltenteilung“ ist in Artikel 20 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich verankert und dient der gegenseitigen Kontrolle und Machtbegrenzung.  
Nach Artikel 3 des Grundgesetzes sind die gesetzgebenden Parlamente an die verfassungsmäßige Ordnung, die gesetzesvollziehenden Regierungen und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Die Exekutive wurde zu Beginn der Coro­na-­Pandemie mit besonderen Befugnis­sen ausgestattet und die „Stunde der Exekutive“ ausgerufen. Nachdem mitt­lerweile jedoch „viele Stunden“ vergan­gen sind, fordern nicht nur Politiker wie­der eine parlamentarische Debatte, Ent­scheidungsfindung und Gesetzgebung. Nur so könne die zwingend erforderliche Akzeptanz und Mitwirkung der Bevölke­rung Deutschlands erreicht werden. Am 6. November 2020 befasste sich der Deutsche Bundestag mit der anhalten­den Kritik anlässlich der erheblichen Einschränkungen im Monat November und diskutierte den Entwurf von CDU/CSU und SPD für ein drittes Gesetz „zum Schutz der Bevölkerung bei einer epide­mischen Lage von nationaler Tragweite“.

Welche weiteren verfassungsrechtlichen Grundsätze sind einschlägig?

Wenn unsere Grundrechte durch politi­sche Entscheidungen eingeschränkt wer­den, greifen auch „Parlamentsvorbehalt“ und „Wesentlichkeitstheorie “. Danach müssen alle wesentlichen, also grund­rechtsbeschränkenden, Entscheidungen vom Parlament selbst getroffen werden – und zwar in Form eines formellen Geset­zes. Dabei gilt: je intensiver der Grund­rechtseingriff, desto höher die Anforde­rungen an die Bestimmtheit des Gesetzes. Insbesondere Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung müssen in einem förmlichen Gesetz definiert und geregelt werden.

Genügen die weitreichenden Einschränkungen durch die Corona-Verordnungen der Länder diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben?

Durch § 32 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) werden die Landesregierungen emächtigt, unter bestimmten Voraus­setzungen Rechtsverordnungen ohne Mitwirkung ihrer Parlamente zu erlas­sen. Diese Regelung genügt nicht den  genannten Anforderungen. Sie lässt nicht erkennen, welche Anordnungen die Landesregierungen konkret erlassen dürfen, wie lange diese Maßnahmen greifen können und mit welchen Ein­schränkungen die Normadressaten zu rechnen haben. Nach § 28 IfSG trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, „soweit und solange es zur Verhinderung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“.

Der Entwurf der Regierungsparteien sieht nunmehr einen neuen § 28a IfSG vor, in dem die Regelbeispiele des § 28 IfSG klarstellend erweitert und abhängig vom Infektionsgeschehen ein regionales oder bundesweit einheitliches Vorgehen geregelt werden. Ob dieser längst über­fällige Entwurf Gesetz wird, ist noch offen. Eine Grundlage für die ergange­nen Verordnungen kann er nicht bieten. Entscheidend ist aber, dass sich die Legislative ihrer Verantwortung bewusst wird.

Herr Prof. Dr. Bietmann, vielen Dank für das Gespräch.

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