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Arbeitszeiterfassung für alle?

Seit 1994 gibt es das Arbeitszeitgesetz und lange hat sich daran niemand gestört, geschweige denn, es besonders akribisch angewendet. Erst der Mindestlohn hat dieses Mauerblümchen unter den Gesetzen in das Rampenlicht der Aufmerksamkeit katapultiert. Viele Arbeitgeber waren und sind immer noch überrascht, was dort alles steht. Das nur wenige Paragraphen umfassende Gesetz enthält immerhin Angaben zu den zulässigen Höchstarbeitszeiten, Ruhepausen, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsruhe, alles in eigentlich erfreulich knapper Form.    

Arbeitnehmer dürfen demnach grundsätzlich nicht mehr als acht Stunden am Tag arbeiten, ausnahmsweise sind bis zu zehn Stunden zulässig. Dann muss aber innerhalb der nächsten sechs Monate ein Durchschnitt von acht Stunden wiederhergestellt werden. In manchen Branchen, wie z.B. im saisonal geprägten Gastgewerbe, lässt sich das kaum umsetzen. Der Ruf nach Anpassung des Gesetzes an die Arbeitswirklichkeit ist daher nicht neu und wird durch Effekte der Digitalisierung und Entgrenzung von Arbeit (Industrie 4.0 und Arbeit 4.0) noch deutlich verstärkt.

Nun macht die Arbeitszeit erneut Furore. Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit brandaktuellem Urteil vom 14. Mai2019, Az.: C-55/18 entschieden, dass alle Arbeitgeber verpflichtet sind, effektiven Arbeitnehmerschutz durch genaue Arbeitszeiterfassung zu gewährleisten. Das gebiete „Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“, kurz auch: Arbeitszeit-Richtlinie (2003/88/EG) der EU.

Der deutsche Gesetzgeber ist nun aufgerufen, die durch das Urteil aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Denn der EuGH erklärt zwar, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, ein System zur Erfassung der täglichen effektiv geleisteten Arbeitszeit zu schaffen. Wie dieses System aber im Einzelnen auszusehen hat, sagt er nicht. Auch aus dem Arbeitszeitgesetz ergibt sich dazu nichts. Über die Unterscheidung von Arbeitszeit nach dem Arbeitszeitgesetz und Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne (also z.B. auch die Zeiten der An- und Abfahrt zum/vom Arbeitsplatz) sagt der EuGH ebenfalls nicht viel. Die Mindestlohndokumentation, wie sie in einigen Branchen Pflicht ist, mag insoweit unter rein tatsächlichen Gesichtspunkten hilfreich sein. Doch auch die dort zugrundeliegende Verordnung zu den Dokumentationspflichten nach den §§ 16 und 17 des Mindestlohngesetzes (MiLoG) und den §§ 18 und 19 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) in Bezug auf bestimmte Arbeitnehmergruppen (Mindestlohndokumentationspflichtenverordnung - MiLoDokV) sagt nichts über die Anforderungen an das benötigte Erfassungssystem aus.

Dieses System, so viel scheint sicher, wird Anforderungen zu erfüllen haben, die der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer dienen. Der EuGH hält die europaweite Einführung  solcher Systeme zum Schutz der strukturell unterlegenen Arbeitnehmerseite für zwingend. Die Zahl der täglich tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung, sowie die Zahl der Überstunden müsse objektiv und verlässlich ermittelt werden. Für den Arbeitnehmer sei es damit zudem praktisch unmöglich, seine Rechte durchzusetzen.

Solche Vorschriften kennt das deutsche Recht nicht. Um die Anforderungen des EuGH zu erfüllen, werden erhebliche Gesetzesänderungen notwendig sein. Für kreative Arbeitszeitmodelle, Gleitzeit und Vertrauensarbeitszeit bedeutet das möglicherweise das Ende. Ob damit auch die Pflicht zur (elektronischen) Stechuhr verbunden ist, lässt sich derzeit kaum abschätzen. Klar ist nur, dass in den von Arbeitnehmern zu führenden Überstundenprozessen, denen auf Arbeitgeberseite wegen der hohen Anforderung an Darlegungs- und Beweislast meist noch mit Gelassenheit begegnet wird, künftig das Unterliegensrisiko der Arbeitgeberseite erheblich steigen wird.   

Bei der Gestaltung von Arbeitsverträgen und vor allem bei der Gestaltung von flexiblen Arbeitszeitmodellen ist ab sofort größte Vorsicht geboten. Die arbeitsrechtliche Rechtsunsicherheit durch dieses jüngste Urteil des EuGH ist noch einmal signifikant erhöht worden. Da hier ein Bereich des Arbeitslebens berührt ist, der auch häufig Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen ist, bei denen es stets um die Nachforderung von Beträgen geht, ist das Urteil von größter Praxisrelevanz. Besonders problematisch ist aus Arbeitgebersicht, dass eine der letzten Bastionen, in der Arbeitgeber sich prozessual noch einigermaßen sicher fühlen konnten, nun gefallen ist.

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