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Ein Richter verliest das BAG-Urteil zu Überstunden

BAG-Urteil zu Überstunden – wer muss was beweisen?

Mit Spannung wurde eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zum Thema Überstunden erwartet. Denn viele Arbeitnehmer nutzen Überstunden, um ihr Gehalt aufzubessern. Dies geht zulasten der Arbeitgeber, die Überstunden nur dann bezahlen wollen, wenn sie die Mehrarbeit angeordnet, genehmigt oder zumindest gebilligt haben. Überstunden sind daher häufig ein Streitthema. Doch wer trägt die Beweislast für die Ableistung von Überstunden?

Keine Beweiserleichterungen für Beschäftigte

Grundsätzlich ist es so, dass ein Arbeitnehmer, der mehr arbeitet, als er vertraglich verpflichtet ist, Anspruch auf eine Vergütung der Überstunden hat. Machen Arbeitnehmer Überstunden geltend, müssen sie jedoch deren Ab­leis­tung be­wei­sen – eben­so wie deren An­ord­nung oder Bil­li­gung durch den Ar­beit­ge­ber.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG muss der Arbeitnehmer konkret darlegen, an welchen Tagen und zu welchen Zeiten er über die übliche Arbeitszeit hinaus gearbeitet hat. Ferner muss der Arbeitnehmer angeben, warum es zu den Überstunden kam, nämlich ob der Arbeitgeber sie angeordnet oder sie vom ihm gebilligt worden sind.

  • Kann der Arbeitnehmer diese Angaben erbringen, ist es die Pflicht des Arbeitgebers, hierauf zu erwidern.
  • Kann der Arbeitgeber die Ausführungen des Arbeitnehmers nicht widerlegen, hat dieser einen Anspruch auf Überstundenvergütung.

Diese Rechtsprechung hat das BAG mit dem aktuellen Urteil vom 04.05.2022 (5 AZR 359/21; 5 AZR 451/21; 5 AZR 474/21) bestätigt. Fraglich war nun, ob sich durch das im Mai 2019 ergangene „Stechuhr-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) an diesen von der deutschen Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen etwas geändert hat.

Stechuhr-Urteil des EuGH: Gesundheitsschutz

Im Mai 2019 entschied der EuGH (EuGH, Urteil vom 14.05.2019 in der Rechtssache C 55/18), dass die Arbeitszeit in den EU-Mitgliedsstaaten mit einem objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeiterfassungssystem täglich und zeitgenau digital erfasst werden muss. Dafür reiche es laut EuGH nicht aus, wenn nur die Überstunden dokumentiert werden.

Eine Frau notiert ihre Überstunden nach dem Stechuhrurteil

Auf dieses EuGH-Urteil nimmt das BAG in seinem aktuellen Urteil Bezug und macht deutlich, dass das sogenannte Stechuhr-Urteil von 2019 nichts an den in Deutschland entwickelten Grundsätzen zur Darlegungs- und Beweislast der Arbeitnehmer bei Überstunden ändert.

Der EuGH hatte entschieden, dass der Arbeitgeber die tatsächlich geleistete Arbeitszeit eines einzelnen Arbeitnehmers erfassen und dokumentieren muss. Dies sei notwendig, um einen effektiven Arbeitnehmer- und Gesundheitsschutz zu gewährleisten und die Vorgaben der europäischen Arbeitszeitrichtlinie einzuhalten.

Das BAG kam nunmehr zu dem Ergebnis, dass sich die Grundsätze der Darlegungslast durch das Urteil des EuGH nicht verändert hätten. Diese dienten nämlich ausschließlich dem Gesundheitsschutz und fänden keine entsprechende Anwendung auf Fragen der Vergütung der Arbeitnehmer. Nach diesen Grundsätzen müssen Arbeitnehmer die arbeitgeberseitige Veranlassung und Zurechnung von Überstunden weiterhin entsprechend darlegen und beweisen.

Die Hoffnung vieler Arbeitnehmer auf Beweiserleichterungen bei der Durchsetzung der Überstundenbezahlung hat sich damit zerschlagen. Arbeitnehmer können sich weiterhin nicht pauschal darauf berufen, Überstunden geleistet zu haben.

Aufgrund der weitreichenden Auswirkungen für entsprechende Klageverfahren war die BAG-Entscheidung mit entsprechender Spannung erwartet worden.

Überstundenvergütung für Auslieferungsfahrer

In dem aktuellen BAG-Urteil war der Kläger als Auslieferungsfahrer bei einem Einzelhandelsunternehmen beschäftigt. Die tägliche Arbeitszeit wurde von dem Arbeitgeber jeweils zum Beginn und zum Ende des Arbeitstages mithilfe einer technischen Zeitaufzeichnung erfasst. Pausenzeiten wurden dabei nicht gesondert erfasst.

Das Arbeitsverhältnis endete 2019. Zu diesem Zeitpunkt machte der Kläger Überstunden geltend und forderte hierfür eine Vergütung in Höhe von rund 5.000 Euro. Der Arbeitgeber verweigerte die Zahlung mit der Begründung, dass vom Positivsaldo der Arbeitsstunden noch diverse Stunden für Essenspausen und Raucherpausen abgezogen werden müssten. Nach dieser Berechnung habe der Fahrer tatsächlich keine Überstunden geleistet.

Der Arbeitnehmer wandte ein, dass er die gesamte Zeit komplett durchgearbeitet habe. Aufgrund der vielen Auslieferungsaufträge habe er keine Möglichkeit zur Pause gehabt, sondern während der Fahrt gegessen oder zwischendurch beim Beladen des Fahrzeugs geraucht. 

Wie viele Überstunden sind erlaubt?

Arbeitnehmer dürfen laut Gesetz von Montag bis Samstag je acht Stunden arbeiten – maximal 48 Stunden pro Woche. Bei einer regulären 40-Stunden-Arbeitswoche sind also bis zu acht Überstunden zulässig.

Pauschale Behauptung von Überstunden nicht ausreichend

Das BAG entschied, dass der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, dem Auslieferungsfahrer die geforderte Überstundenvergütung zu zahlen. Im vorliegenden Fall konnte der Auslieferungsfahrer nicht hinreichend konkret darlegen, dass er ohne Pausen durcharbeiten musste. Das BAG wies die Klage daher ab.

Zur Begründung führten die BAG-Richter an, dass auch vor dem Hintergrund der besagten EuGH-Entscheidung zur Arbeitszeiterfassungspflicht (sog. Stechuhr-Urteil) nicht von den bisherigen Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast in Überstundenprozessen abzurücken sei. Danach müsse der Arbeitnehmer die arbeitgeberseitige Veranlassung und Zurechnung von Überstunden weiterhin entsprechend darlegen und beweisen.

Fazit zu dem BAG-Urteil zu Überstunden

Das neue Urteil des BAG macht es Arbeitnehmern nicht leichter, Überstunden geltend zu machen. Künftig müssen Arbeitnehmer weiterhin nachweisen, dass Überstunden notwendig, angeordnet oder vom Arbeitgeber gebilligt wurden. Somit trägt in Überstundenprozessen nach wie vor der Arbeitnehmer die Darlegungslast und zunächst auch die volle Beweislast für die Voraussetzungen ausgleichspflichtiger Überstunden.

Die Arbeitgeberseite wird dieses Urteil begrüßen, da durch die höchstrichterliche Klarstellung eine Vielzahl von zu erwartenden Prozessen mit ungewissem Ausgang vermieden werden.

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Autorin

Simone Zervos

Rechtsanwältin

Fachanwältin für Arbeitsrecht

 

Autor

Herbert Kaupert

Rechtsanwalt

Partner

Fachanwalt für Arbeitsrecht

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