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StPO-Änderung durch Corona: Das Recht auf ein faires Verfahren in Zeiten der Corona-Pandemie

Änderung in der Strafprozessordnung aufgrund der Corona-Pandemie: Alle relevanten Aspekte und Fragestellungen zusammengefasst

Der Artikel behandelt ein wegen der sich stets verändernden Krisenlage hochaktuelles Thema. Unsere Autorin gibt die ihr bekannte Sach- und Rechtslage mit Stand vom 17.04.2020 wieder

Seit Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 haben die Gerichte immer wieder den Spagat zwischen der Durchführung von Verhandlungen und dem Schutz der Gesundheit aller Verfahrensbeteiligten zu bewältigen. Während seitens der Bundesregierung im Laufe der Zeit immer weiter gehende Restriktionen hinsichtlich der gesellschaftlichen Kontaktpflege und des öffentlichen Lebens erfolgten, stehen insbesondere die Strafgerichte vor der großen Herausforderung, die Verhandlungen auch weiterhin durchzuführen, ohne dass dies zu einem enormen Infektionsrisiko aller Beteiligten führt.

Das Strafverfahrensrecht wird durch die Strafprozessordnung (StPO) geregelt. Durch die am 28.03.2020 in Kraft getretenen Regelung des § 10 EGStPO hat der Gesetzgeber eine neue Norm geschaffen, welche es den Strafgerichten ermöglicht, flexibler auf die pandemische Lage einzugehen. Zum Gesundheitsschutz aller an den Gerichtsverhandlungen beteiligten Personen können Strafverfahren nun über längere Zeiträume als in Normalzeiten unterbrochen werden. Erfahren Sie hier, vor welchen Herausforderungen die Justiz aufgrund dieser StPO-Änderung durch Corona und den damit einhergehenden Implikationen steht sowie den Einfluss der StPO-Änderung auf die Freiheitsrechte von Angeklagten.

Zügige Strafverfahren zum Schutze von Freiheitsgrundrechten

In vielen Verfahren befinden sich die Angeklagten in Haft in einer Justizvollzugsanstalt, wobei die in § 112 StPO geregelte Untersuchungshaft als absolute freiheitsentziehende Maßnahme wie keine andere strafprozessuale Zwangsmaßnahme in die grundrechtlich geschützten Positionen des Beschuldigten eingreift.

Um dieser Beschneidung der Freiheitsgrundrechte des Beschuldigten aus Art. 2 II 2 und Art. 104 GG entgegenzutreten, sind Strafgerichte dazu verpflichtet, Strafprozesse mit der hinreichenden Beschleunigung durchzuführen, um den Eingriff in die Grundrechte des Beschuldigten nicht ungerechtfertigt übermäßig lang aufrechtzuerhalten.

Art. 6 EMRK und § 229 StPO

In Art. 6 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) wurde der bedeutsame menschenrechtliche Grundsatz des „Rechts auf ein faires Verfahren“ entwickelt, um einer willkürlichen Verfahrensdauer entgegenzuwirken. Dieser Artikel enthält sämtliche Mindestgarantien, welche als Grundlage eines rechtsstaatlichen Verfahrens dienen. Dazu zählt unter anderem der Grundsatz auf eine angemessene Verfahrensdauer, welcher Gerichten verbietet, einen Strafprozess willkürlich in die Länge zu ziehen.

Zur Realisierung des Art. 6 EMRK wurden mit § 229 StPO Regelungen seitens des Gesetzgebers geschaffen, die bestimmen, wie lange ein bereits laufendes Strafverfahren maximal unterbrochen werden darf. Vor dem Hintergrund, dass die meisten Strafverfahren aus mehreren, teilweise im zweistelligen Bereich liegenden, Verhandlungstagen bestehen, soll diese Regelung dafür Sorge tragen, den massiven Freiheitsbeschränkungen des Angeklagten durch die Anordnung der Untersuchungshaft entgegenzuwirken.

§ 229 StPO legt folgende Unterbrechungsfristen fest:

  • § 229 Abs. 1 StPO: Die maximale Unterbrechung der Hauptverhandlung beträgt bis zu drei Wochen.
  • § 229 Abs. 2 StPO: Die Unterbrechungsdauer darf maximal einen Monat betragen, wenn bereits zehn Hauptverhandlungstage verstrichen sind.

Als Konsequenz der Nichtbeachtung dieser Fristen hat die Hauptverhandlung neu zu beginnen, was folglich zu einer weitergehenden möglichen Beeinträchtigung der Freiheitsgrundrechte des Angeklagten führt.

StPO-Änderung zum Corona-Infektionsschutz hemmt Unterbrechungsfristen

Insbesondere durch die Corona-Pandemie sehen sich Gerichte zunehmend in einem Drahtseiltanz zwischen der Einhaltung der in § 229 StPO gesetzten Fristen und dem Schutze der Gesundheit aller Verfahrensbeteiligten. Durch immer wieder erfolgende Quarantäneanordnungen aufgrund eines Kontakts zu einer infizierten Person oder gar, weil ein Verfahrensbeteiligter selbst durch das Coronavirus erkrankt ist, kann eine Verfahrensverzögerung eintreten.

Um dieser Problematik entgegenzuwirken und das sogenannte „Platzen“ von Strafprozessen im Zuge der Corona-Pandemie zu vermeiden, hat der Gesetzgeber mit der am 28.03.2020 in Kraft getretenen Regelung des § 10 EGStPO eine neue Norm geschaffen. Diese StPO-Änderung für den Zeitraum der Corona-Pandemie ermöglicht es den Strafgerichten, eine längere Unterbrechung zwischen den einzelnen Verhandlungstagen einzulegen. Laut BMJV (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz) soll die StPO-Änderung bis zum 26. März 2022 gelten.

Der Gesetzgeber sah sich aufgrund des dynamischen Pandemiegeschehens in der Pflicht, die Änderung der StPO während der Corona-Pandemie einzuführen. Durch die StPO-Änderung sind die Fristen des § 229 StPO dann gehemmt, wenn Hauptverhandlungen aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2 Virus nicht durchgeführt werden können, längstens jedoch für zwei Monate. Von einer Hemmung einer Frist ist die Rede, wenn eine Frist für den Zeitraum eben dieser Hemmung nicht abläuft.

Hemmung von Unterbrechungsfristen durch die StPO-Änderung während der Corona-Krise

Die Fristen des § 229 StPO beginnen nach dem Wortlaut des § 10 EGStPO frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung. Konkret räumt der Gesetzgeber durch die Einführung des § 10 EGStPO den Strafgerichten die Möglichkeit ein, die Fristen des § 229 StPO per Beschluss maximal zwei Monate zu hemmen. Hinzugerechnet werden sodann die üblichen Fristen des § 229 StPO, welche jedoch erst zehn Tage nach der Beendigung der Hemmung zu laufen beginnen, was zu einer maximalen Unterbrechung einer Strafverhandlung von drei Monaten und zehn Tagen führen kann.

Die StPO-Änderung und ihre Auswirkungen auf die Untersuchungshaft

Dass diese Vorgehensweise grundsätzlich dazu geeignet ist, den Strafprozess zu retten und einen eventuellen Neubeginn entgegenzuwirken, liegt auf der Hand. Dennoch muss in Betracht gezogen werden, dass die Auswirkungen dieser Neuregelung auf die angeordnete Untersuchungshaft maßgeblich sein können.

Die Untersuchungshaft darf prinzipiell wegen derselben Tat nur in Ausnahmefällen über sechs Monate lang andauern. Der Haftbefehl ist grundsätzlich gemäß § 121 Abs. 2 StPO nach Ablauf der sechs Monate aufzuheben. Nunmehr besteht durch die Einführung von § 10 EGStPO die Gefahr, dass die gesetzlich geregelte Sechsmonatsfrist überschritten wird und prinzipiell zur Entlassung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft führen muss. Dem tritt die Rechtsprechung durch die StPO-Änderung aufgrund der Corona-Lage momentan entgegen und sieht das Coronavirus als wichtigen Grund an, welcher auf außergewöhnlichen und von Niemanden zu vertretenen Umständen beruht.

So argumentiert beispielsweise das OLG (Oberlandesgericht) Karlsruhe wie folgt:

„Es besteht aber ein anderer wichtiger Grund im Sinne der §§ 121 Abs. 1 Abs. 3 S. 3 StPO, der es rechtfertigt, den Vollzug der Untersuchungshaft gegen den Angekl. über sechs Monate hinaus aufrechtzuerhalten. (…) vielmehr beruht die Aussetzung der Hauptverhandlung auf außergewöhnlichen und von Niemanden zu vertretenden Umständen. (…) Die sofortige Entlassung des Angekl. aus der Untersuchungshaft ist jedenfalls schon nicht deshalb geboten, weil völlig ungewiss wäre, wann die Hauptverhandlung durchgeführt werden kann und damit ein Urteil zu erwarten ist.“ (OLG Karlsruhe, Beschluss v. 30.03.2020 – Az.: HEs 1 Ws 84/20)

Diese Auffassung bestätigte ebenfalls das OLG Jena mit seinem Beschluss vom 30.04.2020 – Az.: 1 Ws 146/20 wohingegen das OLG Braunschweig in seinem Beschluss vom 25.03.2020 – Az.: 1 Ws 47/20 deutlich darauf hinweist, dass die Gerichte keinen pauschalen Gebrauch von § 10 EGStPO machen können und vielmehr weitere mögliche und weniger einschneidende Maßnahmen zum Schutz der Verfahrensbeteiligten vor einer Infektion mit dem Corona-Virus in Betracht ziehen müssen.

StPO-Änderung während der Corona-Krise und die Europäische Menschenrechtskonvention

Es ist momentan nicht absehbar, inwieweit die Anwendung des § 10 EGStPO in das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK eingreift. Insbesondere unter Beachtung der Gesetzesbegründung des § 10 EGStPO werden diesbezüglich viele Fragen aufgeworfen, welche es durch die Gerichte nunmehr zu klären gilt.

So führt der Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung vom 24.03.2020 (Drucksache 19/18110) aus, dass der Tatbestand des § 10 EGStPO weit gefasst wird. Der Tatbestand erfasst diese Fälle:

  • ein Verfahrensbeteiligter ist am SARS-CoV-2 erkrankt
  • der Gerichtsbetrieb ist eingeschränkt
  • die Verfahrensbeteiligten gehören zur Risikogruppe

Fraglich ist, ob bereits derartig weitgefasste Fälle, welche zwar grundsätzlich dem Schutze der Gesundheit dienen, den Verstoß gegen Art. 6 EMRK, der durch die StPO-Änderung als Corona-Schutzmaßnahme erlaubt wird, rechtfertigen können. Die Strafgerichte stehen dementsprechend aufgrund der Corona-Pandemie vor einer großen Herausforderung. Die dynamische Situation der Pandemie gebietet es für Gerichte, mit größtmöglicher Flexibilität auf die Lage zu reagieren, wobei hier nicht der im Mittelpunkt stehende Angeklagte und dessen Rechte außer Acht gelassen werden dürfen.

Trotz StPO-Änderung in Zeiten von Corona: Einhaltung der Menschenrechte muss gewährleistet sein

Insbesondere der Verfahrensgrundsatz des Art. 6 EMRK darf auch trotz der pandemischen Lage in der Bundesrepublik Deutschland nicht durch Hintertüren ausgehoben und missachtet werden. Dies gilt auch für die StPO-Änderung zum Zwecke des Corona-Infektionsschutzes.

Der tiefverwurzelte Grundsatz aus der Europäischen Menschenrechtskonvention muss einer derartigen Situation standhalten und diese überdauern. Nur durch die Aufrechterhaltung des Art. 6 EMRK kann ein menschenrechtskonformes, den Angeklagten vor Willkür schützendes und mit seinen Grundrechten in Einklang zu bringendes Strafverfahren durchgeführt werden, welches auch in derart schweren Zeiten, wie sie momentan in Deutschland vorherrschen, oberste Priorität haben muss.

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