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Umgekehrte Altersdiskriminierung?

Dass Diskriminierung nichts Schönes ist, sollte allgemein bekannt sein. Das Grundgesetz (GG) bekennt sich in Artikel 3 zum allgemeinen Gleichheitsgrundsatz. Dort heißt es in erfreulicher Kürze:

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

 

Weiter heißt es dort, schon etwas langatmiger:

Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

 

Und wenn der Gesetzgeber, auch der des Grundgesetzes, einmal ins Reden kommt, dann ist kein Halten mehr. In Artikel 3 Absatz 3 GG heißt es, nochmal ausführlicher formuliert:

Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

 

Die Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft 4.0 muss sich mit verschiedenen Phänomenen gegenläufigster Tendenz auseinandersetzen. Einerseits wird das Eintrittsalter für die Regelaltersrente immer weiter nach oben gesetzt, andererseits steigt die Zahl der vollständig oder teilweise erwerbsgeminderten Arbeitnehmer (klassisch: Bandscheibenvorfälle nach jahrzehntelangem roomservice) und Opfer von burnout, boreout und sonstigen Frühverrentungsfällen. Die Alterspyramide nimmt immer mehr die Form einer Urne an und die Rente ist schon lange nicht mehr sicher.

Trotz verlängerter Lebensarbeitszeit gibt es immer wieder Arbeitgeberangebote, bei denen z.B. Arbeitnehmern bei Vollendung des 60. Lebensjahres eine Abfindung unterbreitet wird, wenn sie früher in den Ruhestand gehen. Darin liegt, so das Bundesarbeitsgericht (BAG), kein Verstoß gegen das Altersdiskriminierungsverbot.

Zum Verstoß des Arbeitgebers gegen das Verbot der Altersdiskriminierung kann es aber schnell und unerwartet kommen, wenn der rentenbezugsberechtigte Arbeitnehmer kein Interesse hat, sich zur Ruhe zu setzen. Wenn im Arbeitsvertrag dazu keine anderslautende Abrede getroffen wurde, ist der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet, ihn unverändert weiter zu beschäftigen. Das Erreichen eines bestimmten Lebensalters stellt nämlich keinen personenbedingten Kündigungsgrund im Sinne des § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) dar. Hierzu regelt § 41 Satz 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) eindeutig:

Der Anspruch des Versicherten auf eine Rente wegen Alters ist nicht als ein Grund anzusehen, der die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nach dem Kündigungsschutzgesetz bedingen kann.

 

Die Vorschrift ist aber vor allem wegen Satz 3 von Interesse, der bestimmt:

Sieht eine Vereinbarung die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze vor, können die Arbeitsvertragsparteien durch Vereinbarung während des Arbeitsverhältnisses den Beendigungszeitpunkt, gegebenenfalls auch mehrfach, hinausschieben.

Wie mit dem „mehrfachen hinausschieben“ rechtlich im Einzelnen umzugehen ist, kann derzeit nicht beantwortet werden. Denn zweifellos handelt es sich um eine Sonderregelung gegenüber dem Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG). Diese könnte aber europarechtswidrig sein. Denn vor dem Hintergrund des Verbots der Altersdiskriminierung erscheint es sehr fragwürdig, den Beendigungszeitpunkt eines Arbeitsverhältnisses beliebig häufig und beliebig lange, im Extremfall jeweils von Tag zu Tag, zu verschieben. Zu den aus der Presse bekannten Fällen der Altersdiskriminierung gehört auch die Frage, ob Piloten mit Erreichen des 65. Lebensjahres nicht mehr im gewerblichen Luftverkehr tätig sein dürfen, oder der Fall, in dem ein Arbeitgeber wegen einer Stellenanzeige, in der er „Berufsanfänger“ suchte, ältere Bewerber diskriminiert. Das illustriert, welches erhebliche Risiko mittlerweile sogar schon bei der Formulierung von Stellenanzeigen droht, denn das BAG hat in dem Fall der Stellenanzeige dem abgelehnten Bewerber einen Schadenersatzanspruch zuerkannt.

Das BAG hatte sich in einem jetzt veröffentlichten Urteil vom 15. November 2016, Aktenzeichen 9 AZR 534/15, mit einem Fall von umgekehrter Altersdiskriminierung zu befassen. Die Parteien stritten über den Umfang des jährlichen Urlaubsanspruchs der Klägerin. Die Parteien waren einander durch Manteltarifvertrag verbunden. Dieser enthielt eine Regelung, wonach die Dauer des Erholungsurlaubs 28 Arbeitstage beträgt, nach Vollendung des 50. Lebensjahres 30 Arbeitstage.

Der Klägerin, die noch nicht das 50. Lebensjahr vollendet hatte, waren 28 Tage Urlaub gewährt worden. Sie machte aber insgesamt 30 Urlaubstage geltend. Der Arbeitgeber lehnte die Gewährung von insgesamt 30 Urlaubstagen ab. Die Klägerin erhob Klage und vertrat die Auffassung, die tarifliche altersbezogene Urlaubsstaffelung stelle eine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters gemäß §§ 1, 7 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) dar. Die Beklagte verteidigte sich und trug unter anderem vor, die Begünstigung älterer Beschäftigter sei gerechtfertigt. Diese seien schutzbedürftiger als jüngere Beschäftigte. Das Erholungsbedürfnis werde mit zunehmendem Alter stärker. Ältere Beschäftigte seien nachweislich häufiger arbeitsunfähig krank und es komme zu längeren Fehlzeiten. Das BAG ließ sich davon nicht überzeugen: es sprach der Klägerin im Kalenderjahr 30 und nicht nur 28 Tage Erholungsurlaub zu. Die Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer ist nach diesem Urteil des BAG sachlich nicht nach §§ 8, 10 AGG gerechtfertigt und deshalb gemäß § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Das führt zu einer Anpassung des Urlaubsanspruchs der Klägerin „nach oben“. Dieser stehen deshalb bereits vor Vollendung des 50. Lebensjahres im Kalenderjahr insgesamt 30 Urlaubstage zu. Für die verweigerten zwei Urlaubstage hat sie gemäß § 275 Abs. 1 und Abs. 4, § 280 Abs. 1 und Abs. 3, § 283 Satz 1, § 286 Abs. 1 Satz 1 iVm. Abs. 2 Nr. 3, § 287 Satz 2, § 249 Abs. 1 BGB Anspruch auf entsprechenden Ersatzurlaub.

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